Hans Oppenheimer
Im Frühjahr 1914 bereitet sich der 18-jährige Hans Oppenheimer aus Osnabrück auf die ‚Reifeprüfung‘ vor. Der Abiturient ist Sohn des Kaufmanns Max Oppenheimer. Die Familie wohnt in der Johannisstraße 43. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Rudolf besucht er das traditionsreiche Ratsgymnasium der Stadt. Wir können uns vorstellen, wie die beiden, zwischen deren Wohnung und dem Ratsgymnasium das Osnabrücker Schloss liegt, jeden Morgen gemeinsam ihren Schulweg durch den Schlosspark genommen haben. Nicht ohne Stolz schreibt Hans Ostern 1914 in seinem Abituraufsatz:
„Deutschland hat sich dank der tüchtigen Männer, die an seiner Spitze standen, im letzten Jahrhundert aus dem kleinen Preußen zu einer solchen Stufe sowohl auf politisch sozialem, Gebiete emporgearbeitet, daß die übrigen Völker Europas nur mit Achtung auf es blicken.“
Wenige Monate später beginnt der Erste Weltkrieg. Hans geht nicht, wie geplant, zum Medizinstudium an eine Universität, sondern meldet sich als ‚Kriegsfreiwilliger‘ zum Dienst in der Armee. Nun steht er auf dem Hof des Osnabrücker Schlosses, Sitz des Garnisonskommandos und regelmäßig Schauplatz militärischer Zeremonien. Er wird mit den anderen „ersten Kriegsfreiwilligen“, die in Osnabrück ihre Grundausbildung erhalten, vereidigt. Kurz darauf kommt er bereits an die ‚Front‘ und schreibt von dort am 26. Oktober 1914 an seine Eltern nach Hause:
„Ich kann mir eure Sorgen denken, so wenig von mir zu hören, aber ich konnte nicht eher schreiben, war von der Welt abgeschnitten. Ich habe letzte Zeit so viel erlebt, daß ich garnicht weiß, womit ich anfangen soll. Zuerst mal die Nachricht, daß ich munter und gesund bin, scheinbar durch ein Wunder, denn wir wurden bei unserem Sturmangriff kolossal mitgenommen; dreimal mussten wir die Engländer innerhalb von vier Tagen aus ihren befestigten Stellungen vertreiben und dreimal fielen links und rechts von mir viele meiner Kameraden, teils tot, teils verwundet. Die feindliche Artillerie schießt sehr gut, die Schrapnells platzten über uns und rissen große Lücken. Von den Gefallenen will ich Fr. Tiemann, (war immer Primus) Bertram und Weil verwundet, nennen.“
Hans Oppenheimer ist Soldat geworden, konfrontiert mit der Möglichkeit, im Gefecht jederzeit getötet oder verwundet zu werden, wie er schon in den ersten Wochen des Krieges in Flandern beim Reserveinfanterieregiment 216 auf drastische Weise erfährt. Er ist aber auch zu einem Gewaltakteur geworden, der in der Extremsituation des Schlachtfeldes, kaum 19-jährig, Menschen tötet, wie er nur wenige Zeilen später beschreibt:
„Etwa 10 Mann stürzten auf mich den Alleinliegenden los; ich drückte nochmals ab und denkt euch, einer der Kerls vor mir steht in hellen Flammen (die Engländer haben ja Röcke und nackte Beine). Ich hatte ihn in die Patronentasche getroffen, die dann explodierte, ein paar andere Weiberröcke wurden mit verletzt und wälzten sich unter Stöhnen vor mir im Dreck, die anderen machten reißaus, als ob der Teufel ihnen im Nacken säße.“
Fünf Tage später ist Hans Oppenheimer tot. Er wird am 1. November 1914 bei Bixschoote während der Kämpfe der ‚Ersten Flandernschlacht‘ um Ypern getötet. Er wurde 19 Jahre alt. Am 11. November erscheint im Osnabrücker Tageblatt seine Todesanzeige. Eine Fotografie, die den jungen Mann zeigt, hat sich mit Hunderten weiterer Bilder von ‚Gefallenen‘ gemeinsam mit einer Sammlung ihrer Feldpostbriefe im Osnabrücker Stadtarchiv erhalten. Ihre Familien haben diese Erinnerungsstücke schon während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg als Bestandteil einer ‚Kriegssammlung‘ an das Archiv gegeben und haben so versucht, ihren Verlust in die Geschichte der Stadt einzuschreiben.
Als Hans Oppenheimer im August zum ‚Kriegsfreiwilligen‘ wird, will sein jüngerer Bruder Rudolf ihm in Nichts nachstehen. Er sitzt bei Kriegsbeginn noch in der Schule und absolviert im Alter von nur 17 Jahren die vorgezogene Notreifeprüfung der Oberprima, die ein Jahr früher aus der Schule entlassen werden soll, um ‚einzurücken‘. Es ist bezeichnend, dass einige Lehranstalten die Gültigkeit dieser Prüfungen von der sofortigen Meldung der jungen Schüler zum Militärdienst abhängig machten. Die Praxis erregte schließlich die Aufmerksamkeit des Preußischen ‚Ministeriums der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten‘, das sich genötigt sah, in einem Erlass vom 16. August 1914 auf die Unrechtmäßigkeit dieser Maßnahme hinzuweisen.
Vier Tage nach der Kriegserklärung schreibt Rudolf Oppenheimer in seinem Abituraufsatz zum Thema „Einigkeit macht stark“:
„Nach dem Friedensschluss 1871 wurde der greise König Wilhelm zum deutschen Kaiser im Schloss zu Versailles ausgerufen und hiermit die Freiheit Deutschlands verkündet. Die folgenden Monarchen sind bestrebt gewesen den Frieden zu erhalten trotz der frechen Herausforderungen unserer Feinde, die uns unsere Macht nicht gönnen. Doch jetzt werden wir zum Krieg gezwungen. Wir müssen unser Ansehen als Großmacht hochhalten. Zwar sind wir diesmal von zwei Seiten bedroht. Auch die Engländer sind gegen uns. Dafür haben wir jedoch einen wackeren Bundesgenossen in Österreich-Ungarn. Am meisten aber vertrauen wir auf unser selbst, auf unsere Einigkeit und auf unser starkes Heer, denn Einigkeit macht stark. Und so ziehen wir denn freudig in den Krieg mit Gott, für König und Vaterland.“
Wenig später ist er, wie sein Bruder, einer der ‚Kriegsfreiwilligen‘, die sich in Osnabrück vor ihrer eigentlichen Einberufung ‚zu den Waffen melden‘. Vermutlich zählt Rudolf Oppenheimer zu den Oberprimanern des Ratsgymnasiums, die sich geschlossen zur Annahmestelle begeben, wie es die Osnabrücker Zeitung vom 5. August 1914, dem Tag der Prüfung, berichtet. Rudolf Oppenheimer überlebt seinen älteren Bruder um fast drei Jahre. Er stirbt am 2. September 1917 an zuvor erlittenen Verletzungen in einem Lazarett bei Hooglede in Flandern. Er wurde 20 Jahre alt. Nach einer Umbettung liegt er heute auf dem Friedhof der dortigen Kriegsgräberstätte im Grab mit der Nr. 2073.
Rudolf Oppenheimer stirbt kaum 20 Kilometer von dem Ort entfernt, an dem sein Bruder 1914 getötet worden war. 1917 tobt die ‚Dritte Flandernschlacht‘ bei Ypern, und noch immer wird bei Bixschoote gekämpft, dem Bezugspunkt des Langemarck-Mythos. In Osnabrück bleiben die Eltern der beiden jungen Männer zurück. Sie haben im Osnabrücker Tageblatt den Tod ihrer Kinder angezeigt und ein Foto mit einem Brief von Hans dem Stadtarchiv zur Aufbewahrung gegeben. Das Ratsgymnasium erinnert auf einer Gedenktafel an die toten Schulangehörigen des Ersten Weltkrieges, darunter Hans und Rudolf Oppenheimer. Die Namen der beiden Brüder finden sich auch unter den ‚Gefallenen‘ aus Osnabrück im Gedenkbuch des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten.