Die sogenannten "Gastarbeiter:innen" in der BRD
Die Geschichte der Arbeitsmigration in der Bundesrepublik Deutschland nahm ihren Anfang mit der Anwerbung sogenannter "Gastarbeiter:innen" in den 1950er Jahren:
Infolge des "Wirtschaftswunders" der 1950er und 1960er Jahre kam es in der Bundesrepublik Deutschland zu einem massiven Arbeitskräftemangel. Eine wirtschaftspolitische Option, den hohen Bedarf an Arbeitskräften zu decken, bestand in der Anwerbung aus dem Ausland. Schließlich kam es zu mehreren bilateralen Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und verschiedenen Anwerbestaaten:
Abkommen wurden geschlossen mit Italien (1955), Griechenland und Spanien (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968).1
In Europa bildete sich in dieser Phase ein dichtes Netz aus zahlreichen bilateralen Anwerbeabkommen zwischen verschiedenen nord-, mittel- sowie westeuropäischen Industriestaaten einerseits und Staaten im und angrenzend ans südliche Europa andererseits. Diese bilateralen Anwerbeabkommen waren maßgebend für die Entwicklung der europäischen Arbeitsmigration und ihrer institutionellen Rahmung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die institutionelle Ausgestaltung dieses Migrationsregimes knüpfte dabei an eine Entwicklung an, die bereits während der Hochindustrialisierung ihren Anfang genommen und in der Zwischenkriegszeit einen internationalen Charakter erhalten hatte.2
Das System der sogenannten "Gastarbeit" in der Bundesrepublik war geprägt durch die staatliche Regulierung des Migrationsprozesses. Der Staat organisierte und steuerte die Anwerbung, Vermittlung und Reise der Angeworbenen. Die Anwerbung richtete sich nach der konjunkturellen Lage. Es galt indessen ein "Inländerprimat": Dies sah vor, eine Anwerbung auf eine Stelle nur dann zu vollziehen, wenn sich keine einheimischen Bewerber:innen finden sollten. Ein wichtiges Element des Systems war zudem das sogenannte "Rotationsprinzip": Diesem zufolge sollte ein Arbeitsaufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland lediglich temporärer Art sein; staatliche Behörden konnten die Dauer des Aufenthalts im Rahmen der Gewährung von Arbeits- und Aufenthaltserlaubnissen steuern. Beide Erlaubnisse wurden den Angeworbenen in Form einer "Legitimationskarte" erteilt, durch die auch Betrieb und Tätigkeit bestimmt wurden. Die Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse waren zunächst auf ein Jahr beschränkt, Verlängerungen lagen im Ermessen der Behörden.3
Die Vermittlung der Arbeitskräfte richtete sich meist nach den Bedürfnissen größerer Betriebe, welche Arbeitskräfte mit nur geringen Vorkenntnissen benötigten. Dies sorgte auch für eine räumliche Ballung der angeworbenen Arbeitsmigrant:innen in den Industriezentren und Großstädten. In diesem Raum waren im Jahr 1971 folglich 50,4 % der "Gastarbeiter:innen" tätig, von den Einheimischen hingegen nur 36,4 %. Somit spielte die Anwerbung auch für das Bevölkerungswachstum und die Veränderung der demografischen Strukturen der Städte eine nicht unerhebliche Rolle.4
Das "Rotationsprinzip" wurde von den deutschen Behörden letzlich aus verschiedenen Gründen nicht konsequent umgesetzt. Denn beispielsweise hätten die Unternehmen im Falle einer konsequenten Beschränkung der Arbeitserlaubnisse auf ein Jahr wiederholte Einarbeitungskosten für neue Angestellte zu tragen gehabt.
Zudem setzte mit der Zeit ein Familiennachzug ein, welcher unter anderem auch deshalb wirtschaftspolitisch unterstützt wurde, da somit ein geringerer Anteil der Einkommen zur Unterstützung der Familien in die Heimatkontexte geschickt wurde und stattdessen in die lokale Wirtschaft floss.5 Es begann damit ein Prozess dauerhafter Einwanderung und Niederlassung, welcher jedoch von der deutschen Politik erst spät als ein solcher wahrgenommen und anerkannt wurde.6 Mit Beginn der "Ölkrise" im Jahr 1973 und sich abzeichnender Rezessionen wurden die Anwerbeabkommen vonseiten der Bundesrepublik beendet.
Im Zeitraum vom Ende der 1950er Jahre bis zum Anwerbestopp 1973 kamen ca. 14 Millionen Arbeitsmigrant:innen in die Bundesrepublik, von denen schließlich etwa 11 Millionen wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten.7 Ca. 3 Millionen ließen sich folglich in Deutschland nieder.
Der Begriff des "Gastarbeiters" - laut Rass ein "Unwort" - wird bisweilen häufig genutzt, um Menschen zu beschreiben, die im Zuge von Anwerbeprogrammen zu Migrant:innnen wurden.8 Diese oft unreflektierte Nutzung des Quellenbegriffs enthält dabei gleichzeitig die im öffentlichen Diskurs reproduzierten Zuschreibungen des temporären Aufenthalts, der Verrichtung minderer Arbeit und der geringen Chance auf Zugehörigkeit.9
Die Bezeichnung der Menschen als "Gastarbeiter" ist allerdings kein Neologismus unserer Zeit. Seine Geschichte reicht weiter zurück in die deutsche Vergangenheit und ist verflochten mit der Entwicklung verschiedenen rassifizierten Wissens: Vielleicht nicht geprägt, jedoch bereits in den 1920er Jahren von Max Weber definiert, fand der Begriff "Gastarbeiter" in den darauffolgenden Jahren Einzug in das Vokabular der Nationalsozialisten, um damit ausländische Arbeitskräfte zu betiteln. Daneben existierten weitere Bezeichnungen wie "Ostarbeiter" oder "Fremdarbeiter", wodurch unterschiedliche Kategorien von Zwangsarbeiter:innen gebildet wurden. Gleichzeitig erschufen die Nationalsozialisten eine rassistische Hierarchie, indem eine klare Differenz zwischen "Gastarbeiter" und "Volksgemeinschaft" geschaffen wurde, die eine Gleichheit bzw. Zugehörigkeit konsequent ausschloss. Als der Begriff Ende der 1950er Jahre im Zuge der Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auftauchte, konnte davon ausgegangen werden, dass die deutsche Bevölkerung durchaus mit der Bedeutung des Begriffs "Gastarbeiter" vertraut war.10
Es empfiehlt sich daher, all die Punkte mitzudenken, wenn von "Gastarbeitern" gesprochen wird.
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Inhaltlich verantwortlich: Johannes Pufahl
1 Vgl. Oltmer, Jochen: Einführung. Migrationsverhältnisse und Migrationsregime nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Oltmer, Jochen; Kreienbrink, Axel; Sanz Díaz, Carlos (Hrsg.): Das "Gastarbeiter"-System. Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa. München 2012, S. 9-21, hier S. 10-11.
2 Vgl. Rass, Christoph: Bilaterale Wanderungsverträge und die Entwicklung eines internationalen Arbeitsmarktes in Europa 1919 - 1974. In: Geschichte und Gesellschaft. Bd. 35 (2009), H. 1, [Europäische Migrationsregime], S. 98–134, hier S. 132-133.
3 Vgl. Pagenstecher, Cord: Ausländerpolitik und Immigrantenidentität. Zur Geschichte der "Gastarbeit" in der Bundesrepublik. Berlin 1994, S. 28-29.
4 Vgl. Luft, Stefan (BPB): "Gastarbeiter". Niederlassungsprozesse und regionale Verteilung. (2011), https://www.bpb.de/themen/migration-integration/anwerbeabkommen/43261/gastarbeiter-niederlassungsprozesse-und-regionale-verteilung/, zuletzt abgerufen am 11.06.2022.
5 Vgl. NLA OS, Dep 3 c, Akz. 2012/090 Nr. 91: Bericht zur Situation der Gastarbeiter, 1971, S. 21-22.
6 Vgl. Pagenstecher 1994, S. 43-45.
7 Vgl. Oltmer 2012, S. 11.
8 Vgl. Rass, Christoph (NGHM/UOS, Hypotheses): "Gastarbeiter". Weitere Fundstücke zur Geschichte eines Unworts (2022), https://nghm.hypotheses.org/4980, zuletzt abgerufen am 02.03.2023.
9 Vgl. Rass, Christoph (NGHM/UOS, Hypotheses): "Gastarbeiter". Neue Fundstücke zur Geschichte eines Unworts (2021), https://nghm.hypotheses.org/3367, zuletzt abgerufen am 02.03.2023.
10 Vgl. Rass, Christoph (NGHM/UOS, Hypotheses): "Gastarbeiter". Zur Geschichte eines Schlüsselbegriffs der Produktion von Migration (2020), https://nghm.hypotheses.org/2388, zuletzt abgerufen am 02.03.2023.