Mario Franz' Leben in der „Papenhütte“
Wer ist Mario Franz?
Mario Franz ist sowohl der erste Vorsitzende des Osnabrücker Sinti-Kulturvereins Maro Dromm - Sui Generis, als auch seit 2017 im Vorstand der niedersächsischen Beratungsstelle und des Landesverbandes deutscher Sinti und seit 2018 in der Geschäftsführung und Sprecher des niedersächsischen Landesverbandes tätig. Herr Franz hat große Teile seiner Jugend in der „Papenhütte“ verbracht und hat sich bereit erklärt, mit uns darüber zu sprechen.
Die Geschichte der Familie Franz wird auch in der Videodokumentation „Nicht Wiedergekommen“ erzählt. Die Protagonistin, Wald-Frida Weiss, ist die Tante von Mario Franz. Zur Familie Weiss wurde ebenfalls der Dokumentarfilm „Raffael de Florian. Dokumentation der Familie Weiss auf dem Reiseplatz in Osnabrück“ gedreht. Mario Franz' Bruder Siegfried Franz hat außerdem in einem Interview mit dem Förderverein der Gedenkstätte Ahlem im Februar 2021 von seinen Erlebnissen und seiner Arbeit erzählt und wie ihn die KZ-Haft seines Vaters prägte. Diese Dokumentationen beschränken sich vor allem auf die NS-Zeit.
Das Leben in der „Papenhütte“
Herr Franz berichtet im Gespräch von seiner Geburt im Marienhospital Osnabrück zwanzig Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Seine Familie habe zu der Zeit in der „Papenhütte“ gewohnt. 1965 gab es dort bereits Steinhäuser. Davor habe es oft selbstgebaute Holzbaracken gegeben. Herr Franz habe hier gelebt bis er dreizehn Jahre alt war. Im folgenden Ausschnitt des Gesprächs berichtet Herr Franz, wer in der „Papenhütte“ wohnte und wie die Bewohner von der übrigen Stadtgesellschaft behandelt wurden.
Ausschnitt des Gesprächs
[von Minute 00:45:50 bis Minute 00:54:07]
Simon Hellbaum: […] Wir treffen aber immer wieder auf diese Sachen wie Holzhütten oder selbstgebaute Unterkünfte und dann aber doch wieder städtische Häuser. […] Wem gehört eigentlich das Land? Wem gehören die Häuser und wer entscheidet, wer dort wohnt? […]
Mario Franz: Das ist immer von der Stadt eine Zuweisung gewesen, und warum man so wenig in den Dokumentationen über Sinti findet, oder „Zigeuner” zu der Zeit, das geschieht ganz einfach aus einer Grundhaltung heraus. Ich kann zwar sagen „ich habe hier eine Müllhalde” und so war das auch betrachtet worden, dort ist der „gesellschaftliche Müll“. Das hört sich alles hart an, was ich sage, aber das war tatsächlich die Haltung aus der Mehrheitsgesellschaft. Aber der restliche Müll ist nicht so interessant, dass wir den überhaupt benennen. Das war tatsächlich so. Und deswegen musste man gar nicht drüber nachdenken und gar nichts darüber sagen: Die Sinti, die „Zigeuner“, und so weiter und sofort. Man hat gewusst, da wollen wir gar nicht drüber sprechen, die gehören dort hin und Ende. So war es. Es gab hier zwei Orte, eigentlich sogar drei. Das war an der Berningshöhe, der Ort ist abgerissen worden, und es gab an der Sandgrube so einen Ort, den gibt es heute noch, und es gab die Papenhütte.
Simon Hellbaum: […] Also es ist ungewöhnlich, dass ein Wohngebiet sozusagen Stück für Stück schmilzt, also Haus für Haus, zugunsten eines Industriegebiets und plötzlich werden die Straßen umbenannt und die Straße heißt jetzt „Kiefernweg” und nicht mehr „An der Papenhütte”. Wie haben Sie diesen Prozess der Verdrängung oder Verlagerung erlebt und wie aktiv waren Sie davon betroffen?
Mario Franz: Ja, tatsächlich war es so, dass die Industrie dort immer ein bisschen näher rückte. Die haben ja auch Mauern gebaut, an denen sie dann zerbrochene Flaschen eingefasst haben, damit unsereins dort bloß nicht rüber kann. Also wir waren da schon eingezäunt und das ist auf einer Ebene gelaufen, die die meisten Menschen zu der Zeit eigentlich wohlwollend entgegengenommen haben. Nämlich indem man gesagt hat, ihr kommt ja hier raus, ihr habt ja ein Häuschen, aber was für Häuschen das waren, wir sind ja umgezogen an die Eversburger Straße und in welchem Zustand das war, ist eine andere Frage. […] Das Ende der Papenhütte betraf aber ja nicht nur die Menschen, die dort gelebt haben, die dort angemeldet waren. So darf man das nicht verstehen. Da haben viele Menschen auch in Wohnwagen oder selbst gebauten Hütten gelebt, die überhaupt gar nicht dort angemeldet waren. Anfangs war es „hier weg in die Eck” und dann hat man gesehen, die Leute kommen klar, die organisieren sich. Dann wurde angeboten, dass man andere Wohnungen bekommt und die Wohnungen waren dann aber alle verteilt, also lebten wir nicht mehr zusammen. Alle waren auseinandergepflückt, auch am Rande der Stadt, natürlich nicht irgendwo in einer guten Gegend, aber so lief das dann. Also hieß es nicht „raus da”, sondern die Umsiedlung verlief unmerklich, professionell und ist sogar positiv aufgenommen worden. Erst 30 oder 40 Jahre später, nachdem die Leute dort wegkamen, ist ihnen aufgefallen, dass sie ihre Kultur nicht mehr pflegen konnten. Warum sind die Menschen denn so weit auseinander versetzt worden usw., vorher hat man sich da gar keinen Gedanken darüber gemacht. Es ist uns damals gar nicht wirklich aufgefallen.
Simon Hellbaum: […] Inwiefern hat es da [in der „Papenhütte“] Konfliktpotenzial untereinander gegeben […]?
Mario Franz: Da gab es keine Konflikte. Das waren nicht viele, die keine Sinti waren, die dort gelebt haben, aber die gab es. Viele Menschen waren da, die keine Lobby hatten. Ich erinnere mich an eine Frau mit Gehbehinderung, Annelore hieß die, die war da mutterseelenalleine, ohne Familie, ohne alles, die ist dahin verfrachtet worden. Es gab auch Menschen, die psychische Probleme hatten und von der Gesellschaft nicht mehr getragen wurden, auch Menschen mit Alkoholproblemen usw. wurden dorthin verfrachtet. Also jemanden, den die Mehrheitsgesellschaft noch als wertvoll angesehen hätte, den gab es da nicht. Aber Konflikte untereinander, nein, die gab es nicht. Die gemeinsame Verfolgung, die man kannte, hat uns auch immer wieder mit anderen Gruppen zusammengeschweißt, ob es Juden oder schwarze Menschen waren. Da hatte man irgendwie eine gemeinsame Plattform, auf der man sich dann auch gegenseitig geholfen hat.
Für die Erwachsenen war es in der Papenhütte sehr schlimm dort, aber für uns Kinder war es ein großes Abenteuer. Klar, wir mussten schneller laufen als die Ratten, da gab es keine Mülltonnen, da waren Container, die waren in einer Woche ein Berg von Müll usw. Wir waren da vielleicht 40 oder 50 Kinder, ob wir da was zu essen hatten oder hungerten, keine Schuhe anhatten, das war uns egal. Wir hatten da, hatten Freude und Spaß und für mich war es am Ende schlimm, als wir da weggezogen sind und ich dachte „ich komm da nicht mehr hin.” Aber ich war dann später trotzdem tagtäglich dort. Also die Kindersicht war eine andere als die der Erwachsenen. Und auch das Erleben war ein komplett anderes.