Das Fortwirken der Diskriminierung der Sinti
"Wir sind kein wandelndes Mahnmal, wir sind weit mehr als Opfer des Nationalsozialismus, wir sind eine deutsche Minderheit, die seit über 600 Jahren hier lebt. Ich kann meine Familie hunderte Jahre zurückverfolgen hier in Deutschland. “
(Mario Franz im Zeitzeugengespräch, 19.07.2021, Minute 00:21:32)
„Unser Leben ist selbstverständlich geprägt von Ausschluss, Segregation und so weiter und so fort. Aber ich muss auch sagen, durch die Normalität so viele Generationen in einer Situation zu leben, wird sie gar nicht mehr so bewusst wahrgenommen, sie ist für einen selbst eigentlich normal und man arrangiert sich damit. “
(Mario Franz im Zeitzeugengespräch, 19.07.2021, Minute 00:22:30)
Diskriminierung und Ausgrenzung der Sinti sind aktuelle Themen und die Fortwirkungen werden auch heute noch gespürt. Herr Franz erzählt von den bestehenden Auswirkungen und dem Aussterben der Kultur und Sprache der Sinti, die über eine mündliche Wissensüberlieferung tradiert werden, also stark im sozialen Verbund und durch den Austausch (der Generationen).
[Minute 00:39:51]
Mario Franz: Ich [...] würde gerne auf die Auswirkungen der Ausgrenzung zurückkommen. Tatsächlich hat es, wie sie auch gefragt haben, Auswirkungen darauf, dass die Kultur der Sinti heute fast ausstirbt. Als in der NS-Zeit der Genozid an den Sinti und Roma begangen wurde, haben die Täter unsere Alten verbrannt. Fast alle. Und mit ihnen ist unsere Überlieferung, unser Gedächtnis gestorben. Heute könnte man in Bezug auf die neue Generation sagen, die die Stigmatisierung meidet und auf Eltern, die den Kindern unsere Sprache gar nicht mehr beibringen und, wenn es möglich ist, ihre Herkunft verheimlicht – damit haben wir es in der Beratung fast ständig zu tun -, nämlich mit Menschen die aus ihren Familien durch den Bruch des Völkermordes kaum noch etwas von ihrer Geschichte und Herkunft wussten, nichts mehr erfahren konnten, und dann unter dem Druck der Stigmatisierung versuchen, ihre Identität unsichtbar zu machen. Aber dann, in einem gewissen Alter, fangen die Probleme an, meistens psychische Probleme. Identitätsprobleme. Mit solchen Fällen haben wir meist bei Menschen im Alter von etwa 40 Jahren zu tun. Wir wissen noch nicht, warum das so ist, warum das erst in diesem Alter meistens auftritt, aber es ist tatsächlich so. Das ist ein Grund, warum ich mit unserem Verein und in der Beratung arbeite und auch selbst zu unserer Geschichte und Kultur forsche: Damit überhaupt noch etwas von uns Sinti da ist und damit die Nachwelt weiß: „Das waren Menschen, die hier gelebt haben”. Weil man sich das in 20 oder 30 Jahren gar nicht mehr vorstellen kann und es darüber, über uns, nichts gibt. Es wird in Europa zwar immer Sinti geben, aber Sinti als Sinti unassimiliert, das bezweifle ich eher, weil sehr viele die Stigmatisierung meiden und versuchen andere Namen anzunehmen und auch die eigene Gesellschaft meiden. Das ist tatsächlich so.
[Minute 00:43:04]
Der Teufelskreis der Diskriminierung
Herr Franz beschreibt außerdem den institutionellen Rassismus, der zum Ausschluss aus der Gesellschaft führt und den viele Sinti auch heute noch erleben. Er appeliert daher an die aktive Mitarbeit aller zur Überwindung der Ausgrenzung.
[Minute 00:31:53]
Mario Franz: [...] Man merkt das, wenn man eine Arbeit haben möchte und wenn man eine Wohnung haben möchte, man spürt es immer noch. Und es hat einen sehr starken negativen, ökonomischen Effekt, denn genau das ist das Problem: Ausschluss aus der Gesellschaft, Ausschluss aus dem Bildungssystem, das ist auch Ausschluss von den Ressourcen. Und Ausschluss von den Ressourcen bringt früher oder später nicht nur Armut mit sich. Wer aber Familie und Kinder hat und von allem ausgeschlossen ist, der muss seine Kinder trotzdem ernähren. Aber wie? Und was aus der Verzweiflung heraus passiert, das bestätigt dann oft wieder die „Ziganprojektion”. Und dieser ganze Kreislauf, der immer wieder entsteht, den merkt man auch heute noch. Heute kommen wir irgendwie durch. Die meisten von uns sind selbständig und verdienen sich so ihren Lebensunterhalt. Aber irgendwo eine gute Arbeit zu finden oder gar zu studieren, darin haben die wenigsten Vertrauen, weil sie sagen: „Ja, was nützt mir das, wenn ich das mache, ich bekomme keinen Job, weil die Leute den ‘Zigeuner’ im Kopf haben.” Oder was passiert, wenn die politische Lage sich ändert, das kennen die meisten aus unserer Geschichte. Ein Vertrauen in die heutige Gesellschaft oder die Zukunft ist im Grunde nicht da. Und genau daran müssen wir arbeiten, das können wir nur gemeinsam, mit Mehr- und Minderheit.
[Minute 00:34:39]